Aus Twitter wird X: Der Kurznachrichtendienst kämpft gegen den Bedeutungsverlust (2024)

Die Umbenennung des Nachrichtendiensts in X verärgert viele Nutzer. Während Elon Musk von der «Alles-App» träumt, bringen sich Konkurrenten in Stellung.

Felix Holtermann, Stephan Scheuer

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Aus Twitter wird X: Der Kurznachrichtendienst kämpft gegen den Bedeutungsverlust (1)

Immerhin. «Poop»-Emojis, kleine Hundehaufen-Symbole, verschickt die Twitter-Pressestelle nicht mehr. Stattdessen erhalten Journalisten auf eine Anfrage hin nun eine automatisierte Eingangsbestätigung: «Wir melden uns bald bei Ihnen.» Mit einer Antwort ist kaum zu rechnen. Der Chefkommunikator des sozialen Netzwerks bleibt sein Eigentümer: Elon Musk.

Der Milliardär hatte Twitter nach langem Hin und Her im Oktober gekauft. Seit Juni ist die frühere NBC-Universal-Werbechefin Linda Yaccarino die neue CEO. Sie hat eine Mammutaufgabe übernommen und soll vor allem die wegbrechenden Umsätze stabilisieren. Doch nun wird ihre Aufgabe noch schwieriger.

Vergangene Woche hat Musk das Netzwerk in X umbenannt, seinen Lieblingsbuchstaben, nach dem er auch einen seiner Söhne benannt hat. Viele langjährige Nutzer reagierten verärgert auf den Schritt. Doch Musk zeigt sich unbeirrt: «Die monatliche Nutzerzahl von X erreichte 2023 einen neuen Höchststand», twitterte er am Freitag. «Und das gilt nach der Entfernung einer grossen Anzahl von Bots.» Unabhängig überprüfen lässt sich die Angabe nicht. X ist nicht mehr börsennotiert und hat daher praktisch keine Publikationspflichten.

Yaccarino erklärte in einem internen Memo, nun gehe der Umbau erst richtig los. Der Übergang von Twitter zu X sei der erste Schritt hin zu Musks Ziel, die Plattform in eine «Alles-App» zu verwandeln, eine erste Anlaufstelle für Internetnutzer.

Yaccarino beschwor die Mitarbeiter, X weise eine «Erfindermentalität» auf und bewege sich «mit Lichtgeschwindigkeit». In Zukunft werde X Funktionen wie Video, Audio, Messaging, Banking und Zahlungsdienste vereinen, die die Nutzer «begeistern» würden. «Ihr schreibt Geschichte, und es gibt keine Grenzen für unsere Transformation», so Yaccarino.

Aus Twitter wird X: Streit um Namensrechte

Allein, die Aufbruchstimmung will nicht ganz zu den Schlagzeilen der vergangenen Tage passen. Der Wirbel ging bereits mit dem neuen Namen los. Diesen hat Musk nicht gepachtet. Stattdessen haben der Facebook-Konzern Meta, Microsoft und zahlreiche kleinere Firmen Markenrechte am Buchstaben X angemeldet. Juristen erwarten entsprechende Klagen.

Auch das Schicksal des Nutzers Gene X Hwang, der den Twitter-Namen «@X» vor sechzehn Jahren registriert hatte, erregte Aufsehen: Die Plattform nahm Hwang den Namen einfach weg – und versprach per E-Mail X-Merchandise.

Nun mag Musk tiefe Taschen haben für mögliche Klagen, auch die Episode um Hwang dürfte schnell vergessen sein. Was Beobachter jedoch umtreibt, ist die Frage, was von X bleibt, wenn das Duo Yaccarino/Musk mit dem Umbau fertig ist.

«Wenn man eine Fallstudie über eine wirklich schlechte Firmenübernahme schreiben müsste, würde Elon Musks Twitter-Übernahme perfekt passen», ätzte Bill George von der Harvard Business School. Musk handele völlig ausserhalb seiner Expertise. «Ich glaube nicht, dass er soziale Netzwerke versteht», sagte George gegenüber dem Sender CNBC.

Am Wochenende hat der Kurznachrichtendienst den Account des umstrittenen Rappers Kanye West, der sich nun Ye nennt, wieder freigeschaltet. Dieser war vor fast acht Monaten wegen antisemitischer Hetze gesperrt worden.

Tatsächlich zweifeln viele Experten an Musks Vision einer amerikanischen «Alles-App». Das Vorbild ist WeChat, die Universal-App des chinesischen Technologiekonzerns Tencent. Diese war 2011 als Kopie des Messengers Whatsapp gestartet, wurde schnell um Video- und Bezahlfunktionen erweitert. Heute dient WeChat vielen Chinesen als zentrale Einkaufs- und Informationsplattform, selbst Scheidungsanträge lassen sich darüber einreichen.

Doch ist der Erfolg kopierbar? Analytiker sind skeptisch. WeChat hatte den Vorteil des frühen Starts, während sich in den USA längst andere Apps etabliert haben. Auch blicken die westlichen Regulierer besonders kritisch auf Apps mit Banking-Funktionen.

X-CEO Linda Yaccarino setzt auf Werbeoffensive

Für viele Nutzer und Werbetreibende sei die Umbenennung von Twitter in X «ein düsterer Tag», schrieb die Insider-Intelligence-Analystin Jasmine Enberg. Musks Management habe «einen Grossteil des etablierten Markenwerts von Twitter» vernichtet. Sie rechnet damit, dass die Werbeeinnahmen der Plattform 2023 auf 2,98 Milliarden Dollar einbrechen. 2021 hatten sie noch bei 4,46 Milliarden Dollar gelegen.

Musk hatte ursprünglich erklärt, Twitter unabhängiger von Werbeeinnahmen machen zu wollen. Mehrere Versuche, ein Abo-Modell zu etablieren, stiessen jedoch auf wenig Gegenliebe.

Die Werbeexpertin Yaccarino setzt nun auf einen traditionellen Weg, die Einnahmen zu stabilisieren: In der vergangenen Woche senkte X seine Anzeigenpreise massiv im Versuch, Werbetreibende zurück auf die Plattform zu locken. Der Preis für Videowerbung etwa wurde um 50 Prozent gekürzt.

Sogar das neue Logo auf dem Dach der Firmenzentrale in San Francisco sorgte jüngst für Ärger. Das riesige, leuchtende X auf dem Dach des Bürogebäudes stösst bei Behörden und Anwohnern auf Widerstand. Das Logo verletze möglicherweise die Genehmigungsvorschriften, teilte die Bauaufsichtsbehörde BID am Sonntag mit. Den Gutachtern sei im Zuge ihrer Überprüfung aber bislang der Zugang zum Dach verwehrt worden. Ein Vertreter habe gegenüber der Behörde erklärt, das Leuchtzeichen sei nur vorübergehend angebracht worden. Am Montag wurde es wieder vom Dach des Twitter-Gebäudes entfernt.

Am Freitag hatte das Unternehmen das X auf dem Dach seines Hauptsitzes in der Market Street aufgestellt. Anwohner kritisierten in den sozialen Netzwerken die «aufdringlichen Lichter» des pulsierenden und flackernden Logos.

Konkurrenten von X bringen sich in Stellung

Verärgerte Nutzer, vergraulte Werbekunden, unsichere Zukunft: Die Konkurrenz bringt sich in Stellung, um die Schwäche von X auszunutzen. Noch ist aber nicht ausgemacht, wer die Herzen der Nutzer gewinnt.

Mit grossem Rückenwind gestartet ist Threads, der Dienst des Facebook-Konzerns Meta. Seit Anfang Juli hat er knapp 120 Millionen Nutzer gewonnen. Das Wachstum verlangsamte sich jüngst jedoch.

Als Gegenstück zum überwiegend «weissen» Twitter tritt Spill an – ein Nachrichtendienst, der Menschen mit möglichst diversen Hintergründen ansprechen soll. Seine Gründer Alphonzo «Phonz» Terrell und DeVaris Brown hatten sich an ihrem ersten Arbeitstag bei Twitter kennengelernt. «Wir waren die einzigen beiden Schwarzen dort», erinnert sich Terrell. Spill soll besonders Kreative, Schwarze, Frauen und queere Menschen ansprechen. Wichtiger Teil sind Funktionen zur Honorierung der Nutzerbeiträge, wie sie auch X ausbauen will.

Und dann wäre da noch Bluesky, das Projekt des einstigen Twitter-Gründers Jack Dorsey. Es wurde als besonders vielversprechende Alternative gehandelt. Doch bis heute werden zu wenige Einladungen zu der Plattform verschickt. Und es lässt sich ein sinkendes Interesse beobachten: Während noch vor einigen Monaten viele Nutzer das Netzwerk ausprobierten, sind viele Diskussionen jüngst erlahmt.

Es gibt also weiter Chancen für X. Nicht hilfreich ist da die Unruhe, die Musks Pirouetten in die verbliebene Belegschaft tragen. Eine Angestellte, die das Unternehmen vor kurzem verliess, berichtete gegenüber dem Handelsblatt von «Endzeitstimmung». «Wir haben uns über private Chat-Gruppen auf dem Laufenden gehalten», erzählt sie. Die wichtigste Frage am Morgen: «Bist du schon entlassen worden?»

Elon Musk habe «Mangel an Empathie»

Die frühere hochrangige Twitter-Angestellte Esther Crawford beschreibt Musk als einen in der «Echokammer» gefangenen Manager. Crawford wurde für ein Foto bekannt, das sie nach der Übernahme im Schlafsack auf dem Boden der Firmenzentrale zeigt. Später wurde sie selbst gefeuert. Sie sei überrascht von Musks «Bereitschaft, so viel niederzubrennen», erklärte sie in der vergangenen Woche.

Abschreiben möchte sie Musk dennoch nicht. Sein «Mangel an Empathie» sei schmerzhaft. Aber: Musk habe auch viel verändert, so Crawford. «Seine Kühnheit, seine Leidenschaft und seine Art, Geschichten zu erzählen, sind inspirierend.»

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